homepage

Ich- AG auf argentinisch

17. Nov 2003 03:45 ~ comments(0)


Es ist ein bewölkter Samstag, und es sieht aus, als würde es heute noch regnen. In der Avenida Federico Lacroze blühen die Jacarandá- Bäume wie verrückt es sieht aus, als hätten sie lila Laub. Hinter dem Gebäude der Mutual Sentimiento und dem Bahnhof Federico Lacroze erstreckt sich ein stillgelegtes Eisenbahngelände. Die Gleise sind mit Gras eingewachsen. In einem grossen Wellblechschuppen findet, wie jedes Wochenende, eine Tauschbörse (trueque) statt. Mit 50 VerkaeuferInnen und BesucherInnen ist sie ein armseliges Überbleibsel der grossen Tauschringtreffen von noch vor wenigen Jahren. Auf dem Eisenbahngelände stehen hier und da alten Waggons, in denen Leute wohnen. In einem Winkel sind Häuser gebaut worden, aus allen möglichen Materialien. In deutschland waere es vielleicht ein wunderbarer Bauwagenplatz, ruhig und mit viel Raum, sich auszubreiten und alles mögliche zu veranstalten. Wir haben die Leute, die wir sahen, allerdings nicht nach dem Lebensgefühl gefragt, welches sie mit dem Wohnen in diesem asentamiento (Spontansiedlung) verbinden. Was wir auch entdecken, ist ein riesiger Wellblechschuppen, durch dessen offene Tore wir Berge von Altpapier, Menschen und die typischen Handkarren der “cartoneros” erkennen. „Cartoneros“ werden die Menschen genannt, die durch die Stadt ziehen und den Müll, der in Buenos Aires auf den Bürgersteigen vor den Häusern auf die Müllabfuhr wartet, nach Weiterverwertbarem zu durchsuchen. Ein Mann, der unsere neugierigen und unentschlossenen Gesichter bemerkt, lädt uns ein näherzukommen. Auf unsere Nachfrage, was die Männer denn da machen, werden wir in ein kleines Häuschen innerhalb des Schuppens geführt. Hier sitzt der Mensch, der die Wertstoffe aufkauft, die die cartoneros bringen. Und er erzählt uns sehr bereitwillig von seiner Arbeit, und von Argentinien. Zuerst klärt er uns darüber auf, dass das Wort “cartonero” erst seit zwei Jahren in Gebrauch sei, seit sehr viele Menschen gezwungen sind, auf diese Weise Geld zu verdienen. Früher hiessen die Leute, die Wertstoffe sammelten und weiterverkauften, “botelleros” (“botella” = Flasche). Der Vater des Wertstoffaufkäufers hatte schon damit seinen Lebensunterhalt verdient, leere Weinflaschen an die Kellereien zurückzuverkaufen.
Allerdings hat das Wertstoffrecycling eine unterbrochene Tradition (wenn überhaupt) in Argentinien: in den 90er Jahren, in der Zeit Menems und der 1:1- Dollarparität des Peso wurden, so der Wertstoffaufkäufer, sehr viele Waren (z.B. auch Karton) aus Europa und den USA importiert- und der Müll von der städtischen Müllentsorgung gesammelt und z.B. nach Japan verkauft, wo Landaufschüttungen damit gemacht wurden- oder eben Recycling. Da der Peso in den letzten Jahren sehr an Wert verloren hat und die argentinische Wirtschaft nicht mehr so kaufkräftig ist, findet ein Restrukturierungsprozess statt. Produkte werden wieder mehr im Land hergestellt, und der Abfall bleibt im Land. Die Stoff- und Produktionskreisläufe schliessen sich auf nationaler Ebene, sozusagen. Und das Sammeln von Wertstoffen durch Leute, die sonst keine oder kaum Arbeit haben, hat seinen festen Platz in diesen Strukturen. Das geschäftige Treiben in der Sammelstelle hat nichts Provisorisches- es ist eine Tätigkeit und ein Geschäft. Schlecht an diesem Geschäft ist, dass die Tätigkeit der cartoneros zwar anerkannt ist und die Stadtregierung diesbezüglich Massnahmen getroffen hat: Die cartoneros duerfen umsonst die Zuege benutzen, die sie in die Innenstadt bringen, und es gibt Kampagnen, die die Menschen auffordern, den Muell zu Hause vorzutrennen, um den ihre Arbeit zu erleichtern (ein interessantes Detail dabei ist die Konkurrenz zwischen der privatisierten Muellabfuhr und den cartoneros). Verträge, Sozialversicherung oder ähnliches gibt es aber selbstverstaendlich nicht. Ebenso betont unser Gespraechsartner, dass selbstverständlich mehr Geld zu verdienen ist, wenn die gesamte Familie zusammenhilft. Und es sind keine seltenen Bilder, auch Kinder nachts mit den Handkarren durch die Strassen von Buenos Aires ziehen zu sehen.

Um den Lebensunterhalt komplett zu bestreiten, reicht es allerdings auch dann kaum aus: 20 Centavos (ca. 7 Euro- Cent)für ein Kilo alte Zeitungen, ein bisschen mehr für Karton. Ein Peso für ein Kilo Altglas, und 4 Peso für ein Kilo Kupfer aus alten Leitungen: auf diese Weise schaffen es die Arbeitsamsten, bis zu 30 Peso an einem Tag zusammenzubekommen. Der Durchschnitt sind jedoch um die 10 Peso: wenig mehr als 3 Euro. Bei fünf Arbeitstagen die Woche zwischen 60 und 200 euro im Monat- das ist mehr Geld, als das staatliche Arbeitslosenprogramm pro Familie vorsieht, nämlich 50 Euro im Monat.

Nicht nur deswegen findet der Aufkäufer, dass die Armen lieber Müll sammeln sollen. Er prangert die "Nehmer- Mentialität" der Menschen hier an, die der Staat seit der Ära Peron in den 50er Jahren geschaffen hat. Zu dieser Zeit war Argentinien dank der Nahrungsmittelexporte (vor allem Rindfleisch) ein reiches Land, und Peron zog mit umfangreichen sozialen Gesetzgebungen, vor allem für die arbeitenden Klassen, die Zuneigung und Stimmen vieler Menschen auf sich. Dazu gehörte aber seit Beginn auch ein System des Klientelismus, in dem Leuten Vergünstigungen im Gegenzug zu politischer Untestützung gewährt werden. In den armen Gegenden der Hauptstadt sind das oft Nahrungsmittelpakete, und viele Menschen, die wir hier getroffen haben sind deshalb gegen diese Staatsgeschenke, weil die Menschen dadurch in Passivität und Abhängigkeit gehalten werden. Ob mensch die cartoneros zur neoliberalen (Selbst)Befreiung vom staatlichen Paternalismus beglückwünschen darf....?


Kommentare

Bitte beachten Sie, dass Ihr Kommentar erst nach Freischaltung durch die Redaktion sichtbar wird.

Kommentar
Dein Name *
Deine E-Mail-Adresse * (nur für die Redaktion, wird nicht veröffentlicht!)
Deine Internetseite
Bitte geben Sie den Text auf diesem Bild ein.
captcha image
Angaben für weitere Kommentare merken?
 


Powered by alotta-log.