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Indien

Salman Rushdie

19. Okt 2006 02:00 ~ comments(0)


Doppelt gedemütigt In Pakistan und Indien werden Vergewaltiger von der Justiz geschützt und vergewaltigte Frauen aus der Gesellschaft ausgestoßen Von Salman Rushdie

In Ländern wie Indien und Pakistan, in deren Kultur Ehre und Ehrverlust eine große Rolle spielen, liegt die Ehre des Mannes in der Sittsamkeit der Frauen, und sittenwidriges Verhalten von Frauen beleidigt alle Männer. So erklärt sich der Freispruch von fünf Angehörigen des mächtigen pakistanischen Mastoi-Clans, denen vorgeworfen worden war, vor drei Jahren eine Frau namens Mukhtar Mai vergewaltigt zu haben. Mit ihrer Tat wollten sie einen Verwandten von Mukhtar Mai bestrafen, der mit einer Mastoi-Frau gesehen worden war. Inzwischen hat der Oberste Gerichtshof Pakistans die Freisprüche kassiert, sodass diese mutige Frau vielleicht doch noch eine gewisse Wiedergutmachung erfährt für das, was ihr angetan wurde.

Pakistan hat indes wenig Anlass, stolz zu sein. Nach Angaben der pakistanischen Menschenrechtskommission wurden in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres 320 Vergewaltigungen und 350 Gruppenvergewaltigungen gemeldet. Die Zahl der nicht gemeldeten Vergewaltigungen dürfte weitaus höher sein. In nur einem Drittel der bekannt gewordenen Fälle erstattete das Opfer Anzeige, und in nur 39 Fällen kam es zu einer Festnahme. Bei interfamiliären Streitigkeiten sind Vergewaltigungen sozusagen Normalität. Und weiterhin hält sich die verbreitete Auffassung, dass das Opfer am besten Selbstmord verübt.

Für jede Mukhtar Mai gibt es Dutzende solcher Selbstmorde. Aber auch Mut garantiert keineswegs, dass dem Opfer Gerechtigkeit widerfährt, wie der Fall von Dr. Shazia Khalid zeigt, die im letzten Jahr in der Provinz Belutschistan von Sicherheitsleuten der Klinik vergewaltigt wurde, in der sie arbeitete. Keiner der Täter wurde verurteilt. Dr. Khalid berichtet, sie sei anschließend so massiv bedroht worden, dass sie sich genötigt sah, Pakistan zu verlassen. »Sie haben mich gejagt«, sagt sie. Der Regierung wirft sie vor, weder die Täter vor Gericht gebracht noch sie selbst vor den Bedrohungen geschützt zu haben. Dieselbe Regierung, geführt von Präsident Pervez Musharraf, zog Mukhtar Mais Pass ein, um zu verhindern, dass die Frau ins Ausland fuhr und dort Dinge sagte, die Pakistan in schlechtes Licht rücken könnten. Dieselbe Regierung stellt sich im Krieg gegen den Terrorismus auf die Seite des Westens, scheint aber nichts dabei zu finden, dass sexueller Terror gegen seine Bürgerinnen ausgeübt wird.

Doch es kommt noch schlimmer. Was in Pakistan möglich ist, kann Indien noch überbieten. Im Fall Imrana, so genannt nach einer Muslimin aus einem nordindischen Dorf, die nach eigenen Angaben von ihrem Schwiegervater vergewaltigt wurde, erließ das einflussreiche islamistische Seminar Darul Uloom ein Gutachten, wonach die junge Frau ihren Mann zu verlassen habe, weil sie durch die Vergewaltigung für ihn haram (unrein) geworden sei.

Die Vergewaltigungs-»Kultur« beruht auf einem rigiden Moralkodex Das Darul Uloom in Deoband, einem Dorf 120 Kilometer nördlich von Neu-Delhi, ist die Wiege des ultrakonservativen Deobandi-Kults, in dessen Schulen die Taliban ausgebildet wurden. Hier wird die doktrinärste, puritanischste, rigideste Version des Islams gelehrt, die es auf der Welt gibt. Für die Anschläge vom 11. September etwa machte man Juden verantwortlich. Nicht nur die Taliban, auch die Mörder von Daniel Pearl, dem Reporter des Wall Street Journal, waren Deobandi-Schüler.

Die strikten Gutachten des Darul Uloom sind berüchtigt und außerordentlich einflussreich – so sehr, dass Imrana erklärte, sie werde sich der Verfügung beugen, obwohl ein Aufschrei der Empörung durch Indien ging. Die unschuldige Frau wird sich also wegen des Verbrechens ihres Schwiegervaters von ihrem Mann trennen.

Wie kann eine simple Lehranstalt solche Urteile aussprechen? Die Antwort liegt in der historischen Besonderheit des muslimischen Privatrechts. Weil es für die indischen Muslime eine eigene Rechtsprechung gibt, sind Frauen wie Imrana auf Gedeih und Verderb den Mullahs ausgeliefert. Dieses Thema ist so kompliziert, dass jeder, der darauf hinweist, dass ein demokratischer Staat ein einheitliches, allgemeines Rechtssystem haben sollte, sich leicht den Vorwurf einhandelt, er sei ein Hindu-Hardliner, der einen antimuslimischen Standpunkt vertrete.

In den achtziger Jahren sprach der Oberste Gerichtshof Indiens einer geschiedenen Frau, Shah Bano, Unterhalt zu. Doch das islamische Recht kennt keine Unterhaltsverpflichtung. Orthodoxe indische Muslime (wie die von Darul Uloom) erklärten daraufhin, das Urteil verstoße gegen muslimisches Privatrecht, und gründeten aus Protest den All India Muslim Law Board (AIMLB). Die Regierung lenkte ein und erließ ein Gesetz, wonach geschiedenen Musliminnen keinerlei Unterhaltsanspruch zusteht. Seitdem hat kein einziger indischer Politiker es gewagt, die Macht der einflussreichen muslimischen Kleriker anzutasten.

Im Fall Imrana hat sich der AIMLB natürlich hinter die Entscheidung des Darul Uloom gestellt, ungeachtet der Kritik zahlreicher muslimischer und nichtmuslimischer Organisationen und Einzelpersonen. Auch der Chief Minister von Uttar Pradesh, Mulayam Singh Yadav, hat sich schändlicherweise hinter die Fatwa gestellt. »Die islamischen Führer haben ihr Urteil im Fall Imrana gewiss nach gründlichen Überlegungen gefällt«, sagte er zu Reportern in Lucknow. »Das sind alles hoch gebildete Leute, die die muslimische Gemeinschaft und deren Empfindungen verstehen.«

Das ist feige. Die Vergewaltigungs-»Kultur« in Indien und Pakistan beruht auf tiefgreifenden sozialen Anomalien, auf einem rigiden Moralkodex, in dem der Ehrbegriff eine zentrale Rolle spielt. Die Unerbittlichkeit dieser Moralvorstellungen führt dazu, dass vergewaltigte Frauen sich auch weiterhin aufhängen oder ins Wasser gehen werden. Es wird noch Generationen dauern, bis sich daran etwas ändert. Solange muss eben die Justiz nach Kräften eingreifen.

In Pakistan hat der Oberste Gerichtshof in der Sache Mukhtar Mai einen kleinen, aber bedeutsamen Schritt unternommen. Nun müssen Polizei und Politiker mit der Strafverfolgung von Vergewaltigern Ernst machen, statt die Opfer zu jagen. In Bezug auf Indien muss ich – auch auf die Gefahr hin, beschimpft zu werden – sagen, dass ein Land, das sich als moderne, säkulare Demokratie versteht, sein Rechtssystem säkularisieren und vereinheitlichen und mittelalterlichen Institutionen wie dem Darul Uloom ein für allemal die Macht über das Leben von Frauen entziehen muss.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

© DIE ZEIT 21.07.2005 Nr.30

http://www.zeit.de/2005/30/Rushdie-Kolumne?page=all


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